Muriel Blaive
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Elise Richter Fellow (FWF)
Muriel Blaive ist Historikerin mit Fokus auf sozialpolitischen Entwicklungen der Nachkriegszeit im kommunistischen und postkommunistischen Mitteleuropa, insbesondere in der Tschechoslowakei und der Tschechischen Republik. Sie absolvierte am Institut d'études politiques in Paris in den Fächern Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte und promovierte in Geschichte (summa cum laude) an der interdisziplinären Schule Ecole des hautes études en sciencs sociales in Paris unter der Leitung von Prof. Krzysztof Pomian.
Bevor sie ihr Elise-Richter-Stipendium an der Universität Graz antrat (2022-2026), war sie von 2014-2022 am Institute for the Study of Totalitarian Regimes (Prag) und davor als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Institutskoordinatorin am Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit in Wien tätig (2005-2013). Sie war IFK Senior Fellow in Wien (2020-2021) und EURIAS Senior Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (2018-2019).
Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehören die von ihr herausgegebene Sonderausgabe von East European Politics and Society, Writing on Communist History in Central Europe, einschließlich ihres Artikels "The Reform Communist Interpretation of the Stalinist Period in Czech Historiography and its Legacy" (East European Politics and Societies, Vol. 36, No. 3, 2022), und der Sammelband Perceptions of Society in Communist Europe. Regime Archives and Popular Opinion, London, Bloomsbury Academic, 2018.
Elise Richter Projekt: "Reckoning with Dictatorship: History, Memory, and Justice in The Czech Republic After 1989" (2022-2026)
Als der Kommunismus in der Tschechoslowakei fiel, freuten sich zeitgenössische Beobachter:innen über das Gefühl, dass das neu befreite Land "nach Europa zurückkehrt". Kapitalismus und Demokratie hatten gesiegt, und der Wind der Geschichte schien in Richtung Fortschritt und kollektives Glück zu wehen. Oberflächlich betrachtet ist der tschechische Fall ein verblüffender Erfolg: Aus dem Land im sozialistischen Lager mit der höchsten Rate an kommunistischen Parteimitgliedern pro Kopf wurde innerhalb von fünfzehn Jahren ein vorbildlicher Übergangsstaat und ein Mitglied der EU. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser Fassade eine gespaltene Gesellschaft, was die Bewältigung ihrer kommunistischen Vergangenheit angeht. Daher ist der tschechische Fall ein interessantes Beispiel dafür, was man in Fragen der Bestrafung und Anerkennung, der Geschichte und Erinnerung, der Gerechtigkeit und des Unrechts tun oder nicht tun sollte. In diesem Projekt wird angestrebt, die Geschichte dieser Vergangenheitsbewältigung von 1989 bis heute zu schreiben. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass eine tiefe Kenntnis der kommunistischen Vergangenheit notwendig ist, um die Erinnerungspolitik des Landes nach 1989 vollständig zu verstehen. Folgende Gesichtspunkte sind dabei von Belang: Was ist mit den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren zu tun (Überprüfungspolitik, juristische Maßnahmen, Gesetze in Bezug auf die Vergangenheit); wie geht man mit den Dokumenten um (Archivpolitik, Erkenntnistheorie); wie schreibt man die Geschichte des Kommunismus (Geschichtsschreibung); wie erinnert man sich an diese Zeit (Gedächtnisforschung). Im Wesentlichen werden alle diese Aspekte in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung in einer interdisziplinären Perspektive diskutiert. Zwei Forschungsfragen leiten das Projekt: Wie repräsentativ ist das scheinbar dominante antikommunistische Narrativ für die Einstellung der Gesellschaft zur kommunistischen Vergangenheit? Und wenn Gerechtigkeit das Ziel des postkommunistischen Projekts war, warum wurde dann nicht auf die Kategorie des "Verbrechens gegen die Menschlichkeit" zurückgegriffen, um die rechtlichen Probleme zu umgehen, die sich aus der Beurteilung eines vergangenen diktatorischen Regimes ergeben? Der zu untersuchende Quellenkorpus kombiniert Primärquellen (politische, juristische und archivarische Dokumente, mündliche Interviews, Strategiepapiere von nichtstaatlichen Akteuren wie NRO) und Sekundärquellen (wissenschaftliche Literatur, Zeitungsartikel, Spiel- und Dokumentarfilme, Romane und Zeugenaussagen). Die Menge der zu erfassenden Literatur erfordert theoretische Vorkenntnisse in Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft, Anthropologie, Gender Studies und Transitional Justice Studies. Das Ziel dieses Projekts besteht darin, das von diesen Disziplinen gesammelte Wissen in Interaktion zu bringen, um ein umfassenderes Bild zu schaffen.