Geschichte des Instituts
Soziologie an der Universität Graz – zur Vorgeschichte und bisherigen Entwicklung des Instituts
Schon im 19. Jahrhundert gab es an der Universität Graz mit Ludwig Gumplowicz (1838-1909) einen Wissenschaftler, der sich für das damals neue Fach Soziologie stark machte. Dieser Rechtswissenschaftler (Habilitation für Allgemeines Staatsrecht 1876, ordentlicher Professor der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechtes 1893) publizierte zahlreiche soziologische Schriften (u. a. „Grundriss der Sociologie“ 1885), die auch in mehrere Sprachen übersetzt wurden und international Beachtung fanden.
Anlässlich des 70. Geburtstages von Gumplowicz wurde in Graz 1908 eine „Soziologische Gesellschaft“ gegründet – nach der Wiener Soziologischen Gesellschaft (1907) die zweitälteste derartige Organisation im deutschen Sprachraum.
Zwischen Soziologie und Politischer Ökonomie
Explizit soziologische Untersuchungen legte auch der 1911 als Ordinarius für Politische Ökonomie nach Graz berufene Joseph A. Schumpeter (1883-1950) vor, der nicht nur 1919 kurzfristig österreichischer Finanzminister war, sondern – nach einer Zwischenstation in Bonn – seit 1932 an der Harvard University tätig war und zu den bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftlern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt. 1918 erschien in der von der Grazer Soziologischen Gesellschaft herausgegebenen Schriftenreihe „Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie“ seine Abhandlung über „Die Krise des Steuerstaates“. 1919 publizierte Schumpeter eine Analyse „Zur Soziologie der Imperialismen“, und auch der 1927 veröffentlichte Aufsatz über „Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu“ greift Anregungen aus Schumpeters Grazer Zeit auf.
Gab es so eine enge Anbindung der Grazer Soziologie an die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, blieb es doch der Philosophischen Fakultät der Universität Graz vorbehalten, als erste institutionelle Verankerung dieses Faches 1920 ein „Seminar für Philosophische Soziologie“ zu errichten, das die geisteswissenschaftliche Perspektive betonte.
Etablierung nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Etablierung der Soziologie an der Universität Graz nach dem Zweiten Weltkrieg ist aufs engste mit Johann Mokre (1901-1981) verbunden, der nach der Rückkehr aus der Emigration 1949 zum ordentlichen Professor der Rechts- und Staatswissenschaften ernannt wurde und in der Lehre neben der Rechtsphilosophie und allgemeinen Staatslehre auch für Soziologie zuständig war, sodass ab 1949 auch soziologische Dissertationen verfasst werden konnten. Auch auf organisatorischer Ebene bemühte sich Mokre um die Förderung der Soziologie, wie etwa durch die 1951 erfolgte Gründung einer „Landesgruppe Steiermark“ der „Österreichischen Gesellschaft für Soziologie“.
Errichtung und Entwicklung des Instituts für Soziologie
Ebenfalls auf Mokres Initiative geht die 1958 erfolgte Gründung des „Instituts für Empirische Soziologie und Statistik“ an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zurück, das 1965 in ein Institut für Statistik und ein Institut für Soziologie geteilt wurde. 1968 wurde Kurt Freisitzer (1928-2010) als ordentlicher Universitätsprofessor für Allgemeine Soziologie und Sozialforschung berufen, der 1981-1983 das Amt des Rektors der Universität Graz bekleidete.
Internationale Ausrichtung des Instituts
Mit der Berufung von Karl Acham (1974) wurde ein Ordinariat für „Soziologische Ideengeschichte und Wissenschaftslehre“ geschaffen (nach 1981 „Abteilung für Soziologische Theorie, Ideengeschichte und Wissenschaftslehre“). 1976 gründeten Karl Acham und Kurt Freisitzer die „Gesellschaft für Soziologie an der Universität Graz“, die bis zum heutigen Tage durch eine intensive Vortragstätigkeit ihren Beitrag zur internationalen Ausrichtung der Grazer Soziologie leistet.
Zwischen Theorie und Empirie
1985 wurde Max Haller zum dritten Ordinarius berufen und die Abteilung „Gesamtgesellschaftliche Analysen und Methoden der empirischen Sozialforschung“ gegründet. Damit war in den Grundzügen jene Ausrichtung der Soziologie an der Universität Graz etabliert, die als ein Alleinstellungsmerkmal zumindest in Österreich charakterisiert werden kann: Einerseits gibt es einen theoretisch-historischen Schwerpunkt – der 1987 durch die Gründung des „Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich“ noch verstärkt wurde – und andererseits wird der empirischen Sozialforschung breiter Raum gegeben, von diversen Feldern einer angewandten Soziologie bis hin zu international vergleichenden Studien.
Seit der durch das Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 1975 vorgenommenen neuen Fakultätengliederung ist das Institut für Soziologie Teil der „Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät“. Auf der Ebene der Lehre ging es in den folgenden Jahren darum, ein reguläres Studium der Soziologie einzurichten, was zunächst durch die Etablierung eines geisteswissenschaftlichen Studienzweiges (Diplomstudium) 1986 gelang, der 2003 durch ein sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Bakkalaureats- und Magistra-/Magisterstudienprogramm ersetzt wurde welches 2007 in ein Bachelor- und Masterstudium umgewandelt wurde.
Ab den 1990er Jahren gab es gravierende Veränderungen in der organisatorischen Struktur der österreichischen Universitäten, die auch den dienstrechtlichen Status des Personals und die Gliederung der Forschungseinheiten betreffen. An die Stelle der ehemaligen Abteilungen traten nach und nach Forschungsschwerpunkte, die die inhaltliche Ausrichtung des Institutes sichtbar machen. Die Entwicklung des Institutes wurde neben den Ordinarien wesentlich auch durch die am Institut tätigen außerordentlichen Universitätsprofessoren Gerald Angermann-Mozetič, Christian Fleck, Peter Gasser-Steiner, Gerhard Grossmann, Franz Höllinger, Helmut Kuzmics und Manfred Prisching geprägt.
Mit der Berufung von Angelika Wetterer (2005) erhielt das Institut die erste Professur für Geschlechtersoziologie in Österreich.
Mit den Berufungen von Stephan Moebius (2009), Klaus Kraemer (2010), Libora Oates-Indruchova (2015) und Markus Hadler (2016) gelangen dem Institut für Soziologie wichtige personelle Weichenstellungen, die eine erfolgreiche Kontinuität der wissenschaftlichen Forschung und akademischen Lehre am Standort Graz ermöglichen. Eine befristete Professur (Johanna Muckenhuber 2014-2019) ergänzte das Portfolio des Institutes zeitweise.
Zur Geschichte der Soziologie in Österreich liegen u. a. folgende einschlägige Publikationen von Institutsmitgliedern vor:
- Mozetič, Gerald (2011): Ludwig Gumplowicz – ein Grazer Pionier der Soziologie, in: Karl Acham (Hg.): Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz. Zwischen empirischer Analyse und normativer Handlungsanweisung: wissenschaftsgeschichtliche Befunde aus drei Jahrhunderten. Wien-Köln-Weimar: Böhlau, S. 433-448.
- Fleck, Christian (1993): A Marginal Discipline in the Making: Austrian Sociology in an European Context, in: Birgitta Nedelmann and Piotr Sztompka (eds.): Sociology in Europe: In Search of Identity. Berlin/New York: de Gruyter, pp. 99-118.
- Fleck, Christian (2010): Die Entwicklung der Soziologie in Österreich, in: Peter Biegelbauer (Hg.): Steuerung von Wissenschaft? Die Governance des österreichischen Innovationssystems. Innsbruck: Studienverlag, S. 259-296.
Am Institut für Soziologie ist auch das Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSO) angesiedelt. Zu seiner Geschichte siehe:
- Reinhard Müller: Es begann vor zehn Jahren... Die Anfänge des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter (Graz), Nr. 13 (Juni 1996), S. 13-24.